Die elektronische Kindheit
Die elektronische Kindheit beginnt in dem Moment, als deine Eltern dich das erste Mal den Kopfhörer ihrer neuerworbenen, sündteuren Stereoanlage mit dem hypermodernen Dual-Plattenspieler aufsetzen lassen. Es ist einer dieser Plattenspieler, bei denen es keine 78-rpm-Einstellung mehr gibt, und er ist so neu und teuer, dass du ihn niemals ohne Aufsicht benutzen dürftest. Mal abgesehen davon, dass du ohnehin noch zu klein bist, um ihn zu erreichen - obwohl ein cleveres Kind natürlich entsprechende Hilfsmittel finden wird, den geblümten Sitzpuff im zeitgemäßen Design des Jahrzehnts zum Beispiel. Und obgleich deine Hände noch zu klein sind, um selbst die großen schwarzen Scheiben zu manipulieren, fühlst du dich wie ein Astronaut unter den riesigen Hörmuscheln, die deinen Kopf fast wie ein Helm umschließen.
Die elektronische Kindheit beginnt, wenn du den Klängen in deiner Raumkapsel lauschst, den Stimmen, die dir plötzlich so nahe sind wie niemals zuvor. Stimmen aus dem Äther, die ganz seltsame, unverständliche, aber faszinierende Worte formen. Es muss sich um Außerdirdische handeln, mächtige Wesen, deren Sprache nur aus Gesang besteht. Wenn geredet wird, ist es immer in Deutsch. Die banale, alltägliche Sprache der Bodenstation. Die kannst du auch hören, wenn du den Kopfhörer abnimmst. Deshalb ziehst du die Platten vor, auf denen nur diese Stimmen und diese Musik drauf sind, die sie immer begleitet. Das Ohr ins All: du musst unbedingt herausfinden, wie du mit diesen Außerirdischen Kontakt aufnehmen kannst. Denn klar ist, dass es paradiesisch sein muss, an einem Ort zu leben, wo jede Sprachäußerung von Musik und Getrommel begleitet wird, anstatt dass man immer gleich ein "Jetzt sei aber mal ein bisschen leise!" zu hören bekommt, wenn man zu singen anfängt. Obwohl doch jeder wissen sollte, dass das zum Legospielen dazugehört. Also setzt du dich auf dein Dreirad und machst dich auf die Suche. Gibst den Außerirdischen Signale, indem du Radio spielst und Verkehrsdurchsagen machst - damit sie nicht im Stau stecken bleiben, wenn sie dich abholen kommen. Und weil Übung den Meister macht, fänsgt du schon mal an, in ihrer Sprache zu singen. Das mag vielleicht noch nicht perfekt sein, aber sie werden deine gute Absicht erkennen und dir friedlich gesonnen sein, wenn sie endlich kommen. Die Bodenstation dagegen ist wenig begeistert, als sie dich und deine Dreirad-Raumkapsel am Rande der Schnellstraße aufliest. Ihre Vorhaltungen über irgendwelche Gefahren findest du lächerlich, weil du natürlich nicht vorhattest, die Straße zu überqueren - wozu auch? Es liegt ja auf der Hand, dass die Aliens diese als Landebahn benutzen werden. Als Reaktion auf deine Entschädigungsforderung "Schlagzeug will der Bubi hören, auf Kopfhörer, bumm-bumm!" wirst du ohne Abendessen ins Bett geschickt. Jahre später wirst du sie dafür bezahlen lassen - in Form von Gitarren-, dann Schlagzeugunterricht und dann den zwei 1210ern. Obwohl - das Geld für die haben sie dir nur geliehen.
Die elektronische Kindheit geht weiter, wenn du dir jeden Weltraumfilm anschaust, den das Fernsehen hergibt, um mehr über die Aliens herauszufinden. Zu deiner Enttäuschung singen die in den Filmen nie, reden deutsch oder grunzen komisch und sind ganz gemein. Dass die Musik machen, ist ihnen überhaupt nicht zuzutrauen. Der einzige Weltraumfilm, in dem Musik gespielt wird, ist Buck Rodgers, aber das ist so ganz komisches Geflöte aus einer Orgel, die ausschaut wie die Kühltheke beim Metzger. Das ist doof, aber kein Wunder, weil ja die Außerirdischen spielen. Und die Musik im Hintergrund ist bei den meisten Filmen genauso doof. Ganz ohne Schlagzeug.
Die elektronische Kindheit geht immer noch weiter, als du lernst, dass die Sprache der Außerirdischen Englisch heißt und gar nicht die Sprache von Aliens ist, sondern die von Menschen, die Engländer heißen und auf der Erde in einem Land namens Amerika wohnen. Das schockiert dich zuerst ein bisschen - auf derselben Erde wie du und die Bodenstation? Dann kommst du hier ja nie raus, sogar mit Musik. So ein Mist. Deine Stimmung bessert sich etwas, als dir klar wird, dass du auf diese Weise immerhin auf eine Raumkapsel verzichten kannst. Wo hättest du die auch herkriegen sollen? Das war ein Problem, das dich schon länger beunruhigt hat. Vielleicht kannst du jetzt ja mit deinem Bonanzarad nach Amerika fahren. Als du später von den älteren Nachbarskindern erfährst, dass man die außerirdische Sprache, die gar keine mehr ist, in der Schule lernen kann, und feststellst, dass die Bodenstation sie nicht beherrscht, triumphierst du. Noch ein paar Jahre, dann ist es so weit. Und jetzt, wo du weißt, dass die Musik auf der Erde zu finden ist und du sie nicht im Weltall suchen musst, machen dir auch die Filme mehr Spaß.
Die elektronische Kindheit geht weiter. Sie geht auch dann noch weiter, als das rothaarige Mädchen aus der Parallelklasse, dem du den ersten Liebesbrief deines Lebens geschrieben hast, nichts von dir wissen will. Du kommst von der Schule nach Hause und willst nicht, dass die Bodenstation hört, wie du weinst, und legst Motorhead auf. Als die Bodenstation gegen deine Tür schlägt und schreit, dass du leiser machen sollst, sperrst du die Tür ab. Jetzt, wo du sie am nötigsten brauchst, sind die Außerirdischen da, und ihr sprecht die gleiche Sprache, und sie helfen dir, eine Schallmauer zu bauen, die die Welt draußen hält. Die Bodenstation und die ganzen anderen Schweine. Die Aliens sind deine besten Freunde, und du selber fühlst dich wie ein Fremder auf diesem verschissenen Planeten. Sie müssen also wohl doch Außerirdische sein, auch wenn sie mit dir Englisch reden: No sleep till Hammersmith. Highway to hell. London calling. Get pissed. Destroy. No sleep till Brooklyn. I wanna be sedated. I'm only looking for fun. Die elektronische Kindheit geht weiter.
Die elektronische Kindheit geht weiter unter dem Walkman auf dem Weg in die Schule; auf überfüllten Tanzflächen, wo niemand etwas von dir wissen will; in Autos auf dem Weg zur Tankstelle, um noch Bier zu holen für die Session zu Hause; in der Musik auf der Party, wo du deine erste richtige Freundin kennenlernst. Die elektronische Kindheit geht weiter in dem Keller, in dem du mit neuen Freunden auf Instrumente einschlägst, um deine Wut loszuwerden, und irgendwann etwas heraushörst, von dem sagst: Das ist schön. Die elektronische Kindheit geht weiter in der Platte, die du auflegst nach einem Arbeitstag, der voll und ganz und absolut zum Kotzen war, und der Platte, die du auflegst an dem Morgen, an dem sie endgütig weg ist. Die elektronische Kindheit geht weiter in der Datei, die dir jemand mailt: ein Rhythmus, über den du eine Melodie legst und plötzlich passt alles, und es ist fast wie Glück oder wenigstens wie ein Rausch ohne Kater. Die elektronische Kindheit geht weiter, und das hat nichts damit zu tun, dass die Rocksänger weitermachen, die Regierungen und das Papier, sondern mit der elektronischen Kindheit, die weiterläuft als Motor im Kopf des Individuums. Und wenn der einmal stehen bleibt, dann, so nimmst du an, setzt dein Herz aus.
Die elektronische Kindheit ist das erste Vinyl-Album von Andreas Köglowitz und Tarek Jumah, die es als Der Unsichtbare auf Kommando 6 veröffentlicht haben. Das Label macht sich seit einem guten Jahr einen Namen als Homebase für dunkle Electro-Tracks, so dunkel wie Detroit bei Regen, wenn der welfare check zu spät kommt und man die Angst als Bass im Magen spürt und der Wind wie ein krachendes Becken um den Balkon im siebzehnten Stock weht. Trotzdem ist es auch eine humorvolle Platte - wo "das absolut Böse" aus einem SciFi-Film-Sample (und davon gibt es viele auf der Platte) im Kontrast zur Musik seine Weltfremdheit entlarvt: Als müsste das Böse erst aus dem Weltraum kommen. Als wäre es nicht genauso ein Teil der Welt wie der Herzschlag der besten Musik. Pure pop for now people also, früher oder später, auch hier, wenn der Sozialstaat endlich kreativ reformiert wird. Ich für meinen Teil überlasse die Kreativität gerne noch eine Weile lieber DJs und Beatprogrammierern und Einzimmerlabels und Wohnungspartyveranstaltern. Wie z.B. Der Unsichtbare und Kommando 6.
Wenn das und/oder der ganze Kram, den ich hier über die Platte geschrieben habe, Ihnen bis hierher lesenswert schien, könnten Sie die Platte auch hörenswert finden. Ich darf Sie dann bitten, sie zu kaufen.
Und hoffe, dass die elektronische Kindheit nicht aufhört.