Tunnelhören
V.A.: construction sonor (2CD, Pro Helvetia 204)
Vertrieb: A-Musik (D), Mdos (A), RecRec (CH)
"Jetzt sitzen wir in einem Loch und essen Löcher. Die spinnen, die Helvetier", sagt Obelix, als er in einem Schweizer Banktresor seinen Emmentaler isst. Das Loch, auf das die Schweiz derzeit am meisten stolz ist, gehört zu den längsten der Welt: Es handelt sich um den NEAT-Eisenbahntunnel, der als "NEue AlpenTransversale" den kompletten Gütertransitverkehr durch die Schweiz von der Straße auf die Schiene verlegen soll. Ein Projekt, das umwelt- und verkehrspolitisch so korrekt ist, dass es eigentlich keiner kulturpolitischen Aufwertung mehr bedürfen sollte. Dennoch hat die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia Geld für eine künstlerische Aufarbeitung des Bauvorhabens locker gemacht, das man vielleicht besser als Sonderzulage an die Beschäftigten auf der sicher nicht ungefährlichen Baustelle ausgeschüttet hätte.
Stattdessen machte Bernd Schurer Fieldrecordings von Geräuschen der Tunnelbaustelle, die auf der ersten CD dieses Sets zu hören sind. Auf CD 2 ist zu hören, was unterschiedlichste Elektronik-Acts aus dieser Vorgabe gemacht haben. Die einzelnen Stücke sind dem gesamten Album weit überlegen, weil sie einen jeweils in sich schlüssigen Zugang zu dem Material finden - ob sie das Metallklirren aus dem Tunnelschacht nun so samplen, dass eine Jazz-Hi-hat draus wird oder ob sie eine reine Geräuschcollage erstellen und die im engen Sinn musikalische Umwandlung des Materials verweigern. Stilistisch hat Musique concrète mit Clubjazz aber nur gemeinsam, dass sie "elektronisch", also am Computer produziert wird, was zunehmend ein absolutes Nullkriterium wird. Entsprechend wenige wirklich musikalische Kriterien gibt es, die die - in sich, wie gesagt, durchaus teilweise interessanten - Beiträge verbinden.
So bleibt der schale Nachgeschmack eines nicht zu Ende gedachten Projekts, das sich für seine Konzeption auf einen anekdotischen, außermusikalischen Effekt verlässt ("Das kommt alles von diesem technologischen Jahrhundertprojekt") und einfach postuliert, dass das musikalisch tragfähig sein kann. Gerade weil die Herkunft des Materials in Design, Linernotes und der ganzen Präsentation des Albums so stark betont wird, wirkt es seltsam, dass die Verwendung des Materials dann so willkürlich und abstrakt wirkt. Ginge es wirklich um das Bauprojekt, wäre ein O-Ton-Hörspiel für den Hörer informativer und gewinnbringender. Geht es Pro Helvetia freilich darum, ein nationales Bauprojekt als Vorwand für eine Leistungsschau einheimischer Experimentalmusik herzunehmen, dann befremdet mich die Verbindung von beidem. Das ist ja, als hätte die Bundesregierung deutsche Musiker den Bau der Reichtstagskuppel samplen lassen - ein Projekt, mit dem sich der Auftraggeber eine symbolische Identifikation mit der Nation erschlichen hätte, die bei den Künstlern vielleicht gar nicht gegeben ist, die zu diskutieren die Form des elektroakustischen Materialexperiments aber vielleicht zu subtil ist. Doch die Herkunft des Materials ist bei dieser Kunstform nie unschuldig, eben weil es der "unmittelbaren" Umwelt, der materiellen Wirklichkeit entnommen ist, die von ganz anderen Kräften bestimmt wird als das tradierte System der Musik.
Dabei will ich freilich nicht bestreiten, dass die Schweiz eine auffallend hohe Dichte an elektroakustischen Experimentalmusikern aufweist. Ich finde es nur beruhigend, dass es nicht nur solche gibt, die von Pro Helvetia alimentiert werden, sondern auch andere, die in der anarchistischen Undergroundszene arbeiten und in besetzten Häusern auftreten, weil das dafür spricht, dass die Gleichung "Elektroakustische Experimente = absolute Kunst = apolitische Repräsentationskunst" nicht immer, überall und zwangsläufig aufgehen muss.
Gerade zum jetzigen Zeitpunkt, wo die Creative-Commons-Lizenz auch im deutschsprachigen Raum dem kollektiven künstlerischen Arbeiten neue Wege eröffnen soll, ist jedoch im kulturpolitischen Sinne sehr löblich, die Fieldrecordings der ersten CD allen Interessierten für die Produktion eigener Stücke freizugeben. Das Material darf also seine eigene Stimme behalten, und im Zweifel ist die O-Ton-CD ohnehin die spannendere von beiden.