Train of Thoughts
Chessie: Overnight (CD, Plug Research 2001)
Vertrieb: mdos.at (A), EfA (D), Namskeio (CH)
Als Doppel-Vinyl erscheint das Album auf 2.nd rec (Vertrieb: EfA)

"'Overnight'" is a ghostly meditation on the aesthetics of late night train travel", beginnt das Presseinfo. Das verheißt erstmal nichts Gutes, sondern: Programmmusik, zwanghafte Definition der Musik durch einen - nun ja - mehr oder minder interessanten Interpretationskontext. Ich für mein Teil wäre ja froh, wenn ich bei nächtlichen Zugfahrten schlafen könnte. Im übrigen darf sehr bezweifelt werden, dass es eine allgemein fassbare Ästhetik des Zugfahrens gibt - das hängt doch sehr von Zug, Strecke, Zahl der Stopps und v.a. Verfassung des Reisenden ab. Ist also praktisch undefinierbar und beim besten Willen nicht Konzeptalbum-tauglich.

Entgegen dem, was der Pressetext erwarten lässt, ist Overnight denn auch kein Konzeptalbum, sondern schlicht großartig. Die atmosphärischen Räume, die das Album erforscht, entziehen sich einer engen thematischen Definition und machen doch den Eindruck, präzise die Stimmung ganz bestimmter (ja, durchaus nächtlicher) Situationen zu erfassen. In einem exakten Sinn impressionistisch könnte man diese Musik nennen, nicht so sehr, weil manche der schwebenden Klavierpassagen Echos von Débussy wachrufen (so wie manche der warmen, freundlichen und doch melancholischen Gitarrenpulse an Satie erinnern). Impressionistisch im Sinne einer Offenheit für die minimalen atmosphärischen Schwankungen innerhalb einer Situation, für das Sich-Anbahnen und dann das plötzliche Ausbrechen von Unruhe aus scheinbar ruhigen Situationen heraus. (Referenztrack: Northern Maine Junction - vom Zustand der Fast-Erstarrung (nachts, im Freien, in der Kälte, irgendwo allein, an irgendwas denken, dastehen/-sitzen, glotzen, rauchen) bis zum ruckartigen Wegwerfen der Kippe, Weggehen, Weitergehen, weil einem irgendwas einfällt.)

Das alles wird hier mit durchaus minimalistischem Instrumentarium verhandelt, aber im Einblick auf die resultierende emotionale Kraft ist die Art, wie Klaviersounds, elektronische Flächen, Noises, Lo-fi-Gitarren und Beats aufeinandertreffen, viel eher maximalistisch. Besonders wichtig, erfrischend, intelligent, schön: Der Beat ist hier nie etwas, was den Track von vorn bis hinten zusammenhält, sondern ein Instrument, eine Stimme unter anderen, die eine ganz bestimmte Intensität markiert, während die anderen Instrumente andere Intensitätszonen erzeugen. Aus ihrem Zusammenwirken ergibt sich durchaus eine "Syntax" der Stücke, sie erzählen tatsächlich sehr viel - wesentlich mehr als nur vom Zugfahren, und das ist gut so.

Die Musik von Chessie erzeugt immense Spannungsfelder und macht doch stets den Eindruck, in sich zu ruhen; sie ist Ambient, ohne zur Hintergrundkulisse zu werden, Postrock, ohne in leere Instrumentalvirtuosen-Formeln zu verfallen, und asketisch bei enormer emotionaler Dichte. Ein Meisterwerk aus dem Klangkosmos, dem auch k.c. accidental entstammen.

gebrauchtemusik

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