100 Jahre Leni Riefenstahl, 40 Jahre Rolling Stones
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Am 22. August 2002 jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag von Leni Riefenstahl, die zunächst als wichtigste Propagandaregisseurin Adolf Hitlers, des "größten Feldherrn aller Zeiten" (im folgenden im Einklang mit zeitgenössischen Quellen abgekürzt als Gröfaz), bekannt wurde. Heute ist sie als Film- und Fotokünstlerin weltweit anerkannt.
Am 12. Juli 2002 jährte sich zum vierzigsten Mal der erste "offizielle" Auftritt der Rolling Stones, die zunächst als "größte Rock'n'Roll-Band aller Zeiten" (im folgenden abgekürzt als Grörrbaz) bekannt wurden. Als solche gelten sie immer noch, aber Ron Wood malt angeblich auch.
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Leni Riefenstahls Berühmtheit speist sich primär aus denjenigen ihrer Filme, die explizit Nazipropaganda sind: Triumph des Willens über den folgenschweren (Nürnberger "Rasse"-Gesetze!) Nürnberger Parteitag der Gröfaz-Partei, und Fest der Völker/Fest der Schönheit über die von Goebbels propagandistisch instrumentalisierte Berliner Olympiade 1936. Dass diese Filme Nazipropaganda sind, würden vermutlich nicht einmal ihre glühendsten Verehrer bestreiten - vielmehr dürften sie den eminenten Kunstcharakter ihrer charakteristischen "heroischen" Darstellungsweise unterstreichen, der angeblich den politischen Entstehungskontext der Filme sprenge. Dieses Manöver ermöglicht es dann, die heroischen Darstellungscodes - sei es nun die Perspektive von unten, die den Gröfaz-Helden übermenschlich groß erscheinen lässt, oder der von Scheinwerfern im Nachthimmel über ihm gebildete "Lichtdom", der ihm göttliche Züge verleihen soll - als politisch neutrales Vokabular für die Inszenierung charismatischer Gestalten zu nutzen.
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Mick Jagger, der Leadsänger der Grörrbaz, ist in den 70er Jahren mehrfach mit dem Gröfaz verglichen worden - so von dem für Star-Demontagen mittlerweile ein wenig allzu notorischen Albert Goldman, der ein Konzert der Grörrbaz aufgrund von Jaggers Wirkung auf die jugendlichen Massen mit dem von Riefenstahl filmisch zelebrierten Parteitag verglich und als "pure Nuremberg" bezeichnete. Ein Vergleich, der völlig verkennt, dass die Wirkung des Gröfaz sich nicht nur auf seine charismatische Live-Performance stützte, sondern auf einen zur Zeit dieses Parteitags voll etablierten Staatsapparat samt Propaganda und Massenorganisationen, die alle auf dieselbe ideologische Linie eingeschworen waren. Natürlich gibt es auf jedem Konzert der Grörrbaz Stadionordner, aber wo wäre deren gemeinsame ideologische Linie mit dem, was Jagger singt?
Um vom Sänger der Grörrbaz zum Gröfaz zu werden, hätte es eben einer solchen eingeschworenen Streitmacht, einer "Schutzstaffel" bedurft. Norman Spinrad hat in seinem Roman Der stählerne Traum - den, so seine "Was wäre wenn"-Fiktion, Adolf Hitler geschrieben hätte, wenn er in den 20er Jahren nach Amerika ausgewandert und Schreiber von Science-Fiction-Heftromanen geworden wäre - den faschistischen Führer Ferric Jaggar (!) und seine Motorrad-Leibgarde imaginiert, welche deutlich den Hell's Angels nachgebildet ist. Als diese Rockergang 1969 als Ordnertruppe für das von der Grörrbaz mitorganisierte Open-Air-Konzert in Altamont, Kalifornien, rekrutiert wurde, war das Ziel wohl tatsächlich, eine "nichtkommerzielle" Security zu finden, die mit der auf der Bühne versammelten "Gegenkultur" inhaltliche Berührungspunkte haben sollte. Dass der universelle LSD-Konsum die Hell's Angels nicht an rassistischen Morden hinderte, musste sich dann erst herausstellen, aber wenn man die Filmaufnahmen aus Altamont sieht, wird ziemlich deutlich, dass Mick Jagger dort nicht seine Streitmacht dirigiert hat, sondern Angst hatte, dass die Hell's Angels ihn als nächsten kalt machen.
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Spinrads Roman ist ein gutes Beispiel für die Dämonisierungsfalle, in die man tappt, wenn man einen unliebsamen Charismatiker - und es gibt sicher viele gute Gründe, die Grörrbaz und ihren Front-Mann unliebsam zu finden - umwegslos mit einem totalitären Charismatiker gleichsetzt. Dabei benutzt man das Attribut des "Totalitären" nur als (ab)qualifizierendes Schimpfwort, während es in Wirklichkeit eben ein realer Unterschied ist, ob der Charismatiker auf der Bühne auch außerhalb der Show über einen Apparat verfügt, der seine Lehren verbreitet - die sich zudem, wenn sie Popsongs sind statt politischer Reden, dankenswerterweise in ästhetischer Mehrdeutigkeit verlieren - oder ob er zwei Stunden spielt und die Zuschauer nach diesem explizit und bewusst vom Alltag abgehobenen Schauspiel wieder in eine nicht von ihm beherrschte Wirklichkeit entlässt.
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Vor diesem Hintergrund ist es dennoch nicht eben beruhigend zu erfahren, dass der Sänger der Grörrbaz sich von der Regisseurin des Gröfaz (und damit als Gröfaz?) inszeniert sehen wollte: "Auch Mick Jagger wollte von der Frau fotografiert werden, mit der das alles anfing, und bekannte sich als Fan ihrer Filme. 'Einige', brüstet sie sich in ihren Memoiren, 'habe er bis zu fünfzehn Mal gesehen.'", berichtet Willi Winkler im SZ Magazin vom 09. August 2002. Mit "das alles" meint Winkler im Zusammenhang seines Essays jenen (sehr britischen) Nazi-Chic, der neben Grörrbaz-Gitarrist Brian Jones auch David Bowie und die Punk-Ikone Sid Vicious dazu veranlasste, hakenkreuzgeschmückt durch die Gegend zu paradieren. Vielleicht muss man unter "das alles" aber letztlich viel mehr verstehen, nämlich einen Willen und eine Kompetenz zur (Selbst-)Inszenierung, die unverzichtbar ist, um eine große Zahl von Menschen zu erreichen.
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"Die katholische Kirche, die Französiche Revolution, die Nazis, die Leninisten und Maoisten, aber auch die Rolling Stones und die Fußballvereine haben immer sehr gut gewußt, in welchem Maße die Raumaufteilung Religion, Politik und Ideologie ist", schreibt Umberto Eco in Über Gott und die Welt, und dies lässt sich innerhalb einer Mediengesellschaft selbstverständlich auch auf die mediale Inszenierung der Raumaufteilung übertragen, für die Riefenstahls Filme ein so extremes Beispiel geben, das zumindest den Leader der Grörrbaz affiziert haben soll. Während sich die Grörrbaz also nur unter Heranziehung einer mittelschweren Paranoia als faschistische Band sehen lassen, sollte man sich doch fragen, welche "Religion, Politik und Ideologie" sich in der heroischen Inszenierung ihrer mit zunehmendem Alter immer vitalistischer sich gerierenden Bühnenpräsenz zeigt, ohne dass sie auf der Ebene ihrer Songs ausgesprochen werden müsste.
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Pour un rock and roll mineur
"Sie haben nicht die Zähigkeit, um echte Rockstars zu sein", sagte Keith Richards 1977 über die Musiker der Punkwelle. Die Zeit hat ihm Recht gegeben: die meisten der damals kurzzeitig bekannt gewordenen Bands existieren nicht mehr. Die Zeit hat jedoch auch all jenen Recht gegeben, die damals antraten, um dem Begriff Rock'n'Roll wieder eine Bedeutung zu geben - denn über ihren Ansatz werden heute Bücher geschrieben und gelesen, die immer noch eine ganz und gar gegenwärtige, unheroische Praxis zu inspirieren vermögen (mehr dazu demnächst auf unserem Label), während der Gitarrist der Grörrbaz dazu verdammt scheint, mindestens bis zu seinem hundertsten Lebensjahr die auf monströs sinnentleerte Weise fortdauernde physische Präsenz einer einstmals machtvollen charismatischen Figur zu vertreten - in bester Gesellschaft mit seinen Bandkollegen, Leni Riefenstahl, dem Papst, General Pinochet, Henry Kissinger, Lady Thatcher und Dr. Kohl.
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Doktor, das ist schön von euch
Letztgenannter wurde seinerzeit viel geschmäht dafür, dass er Michail Gorbatschow bescheinigte, er sei in Public Relations mindestens so gut wie Goebbels. Bedenkt man, dass Public Relations ein durch und durch von den Werten marktwirtschaftlicher Demokratien durchdrungener Begriff ist, so kann man diese Aussage im Rückblick nur als Kompliment an Gorbatschow als demokratischen Neuerer sehen - denn nach allen im Kalten Krieg etablierten diskursiven Spielregeln hätte es in der UdSSR nur "Propaganda", nicht aber "Public Relations" geben dürfen. Dass jedoch für die westlich-demokratischen Public Relations - nicht in inhaltlicher, aber in technischer Hinsicht, im Hinblick auf die Erprobung wirksamer Darstellungscodes - "das alles anfing", als Dr. Goebbels und Frau Riefenstahl ihre Apparate erprobten, steht normalerweise auf einem anderen Blatt. Die geniale Leistung des Kohlschen Versprechers besteht darin, beide Aspekte zugleich ans Licht gezerrt zu haben: ihr bekommt jetzt zwar Public Relations statt Propaganda, aber seid euch nicht zu sicher, dass das besser ist. Im Hinblick auf die Grörrbaz nun sieht es so aus, als hätte diese sich von Anfang an aus einer Quelle bedient, die viel mehr zum Mainstream der Kultur der "Freien Welt" gehört, als es auf den ersten Blick aussieht.
Und vielleicht veranstaltet ja Moritz Hunzinger die nächste Europatournee der Rolling Stones - vom Rhein bis zum Ural.