Aufstieg und Fall der vier Jahreszeiten
Ein einzigartiges Werk der klassischen chinesischen Musik
Bei der CD, die Sie in Händen halten, handelt es sich in zweierlei Hinsicht um ein Dokument von historischem Gewicht. Zum ersten liegt hiermit die erste Aufnahme des umfangreichen Stückes Aufstieg und Fall der vier Jahreszeiten vor, das die Sicht der ethnomusikologischen Fachwelt auf die klassische Musik Chinas zweifellos entscheidend verändern wird. Zum zweiten handelt es sich hier um ein in seiner Art einmaliges Experiment, bei dem klassische chinesische Musik für eine Interpretation auf modernen Instrumenten arrangiert wurde.
Aufstieg und Fall der vier Jahreszeiten wurde von einem anonymen Komponisten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, also in der ausgehenden Yüan-Dynastie, komponiert. In seiner rein instrumentalen Struktur nimmt es zentrale musikalische Tendenzen der nachfolgenden Ming-Dynastie (1368-1644) vorweg. Gleichwohl zeigt sich in der, um einen Begriff aus der westlichen Musiktheorie zu entlehnen, programmmusikalischen Konzeption, die in den Titeln der einzelnen Abschnitte zum Ausdruck kommt, ein literarischer Gestaltungswille, der der Theatermusik der Yüan-Dynastie verpflichtet ist, sich aber nicht in die weitere Entwicklung der chinesischen Operntradtion einreihen lässt. Mit anderen Worten: Aufstieg und Fall der vier Jahreszeiten dokumentiert, gerade auch in seiner äußerst modern anmutenden Kontrastierung ganz unterschiedlicher Thematiken und Stimmungen, eine mögliche Entwicklungslinie der chinesischen Musik, die aber, so weit dies beim heutigen Forschungsstand zu übersehen ist, nicht weiter verfolgt wurde. Das Stück ist mithin ein musikhistorischer Solitär.
Unter http://www.gebrauchtemusik.de/label/gm026.pdf findet sich eine kurzgefasste Interpretation des Stückes in seinem kulturgeschichtlichen Kontext durch den Entdecker der Partitur, Dr. Fu Li Lai. Um das Stück in all seiner Tiefe würdigen zu können, empfiehlt es sich dringend, vor dem Hören der CD diesen Essay zu lesen.
Nicht weniger ungewöhnlich als das Stück selbst sind die Umstände seiner Entdeckung. Die Aufzeichnungen, anhand derer es rekonstruiert und für die Aufführung eingerichtet werden konnte, kamen bei der Inventarisierung der Bibliothek in Ji’nan zu Tage, an deren Stelle derzeit das neue Haus der bayerischen Wirtschaft der Provinz Shandong errichtet wird. Dr. Fu Li Lai vom musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Ji’nan, der im Auftrag der Bayern Kulturstiftung die Partitur ediert und die künstlerische Leitung der Aufnahme betreut hat, bereitet derzeit eine ausführliche textkritische und historische Würdigung des Materials vor, die in der Schriftenreihe der Bayern Kulturstiftung erscheinen wird.
Mein Wunsch als Vorsitzender der Bayern Kulturstiftung wäre, auf eine prägnante Formel gebracht, der folgende: dass in dem Maße, wie sich für China im Zeichen der Orientierung nach Westen neue marktwirtschaftliche Horizonte öffnen, sich auch dem westlichen Hörer dieser CD mit chinesischer Musik neue geistige Horizonte eröffnen mögen. Zweifellos wird diese Musik für Hörer, die mit der europäischen Musiktradition vertraut sind, fremdartig, stellenweise vielleicht sogar irritierend klingen. Hier kann jedoch die Kultur in besonderem Maße von der Wirtschaft lernen - in beiden Bereichen kann Fortschritt nur entstehen, wenn wir eingefahrene Vorurteile ablegen und Denktabus überwinden. Um westlichen Hörern den Zugang zu erleichtern, wurde die Partitur von Dr. Fu Li Lai an Stellen, die interpretativen Spielraum bieten, behutsam an die europäische Tonalität angenähert. An einigen Stellen war es Dr. Fu Li Lai möglich, auf die reiche musikalische Tradition von Ji’nans bayerischer Partnerstadt Augsburg zurückzugreifen und unklare Stellen der Partitur anhand der Methoden Leopold Mozarts zu extrapolieren. Da außerdem nicht mit letzter Sicherheit zu klären war, auf welchen Instrumenten das Stück nach dem Willen des Komponisten gespielt werden sollte, wird hier das Experiment unternommen, das Stück mittels moderner elektronischer Instrumente aufzuführen, die ein Höchstmaß an klanglicher Transparenz und Neutralität der Klangfarbe bieten. Dies kommt einerseits westlichen Hörgewohnheiten entgegen und erlaubt andererseits größtmögliche Treue gegenüber dem Ideal des Stückes, wie es die Partitur vorsieht. Als Vorsitzender der Bayern Kulturstiftung möchte ich Dr. Fu Li Lai und seinem Mitarbeiterstab für die Edition und Einspielung der Partitur danken, ferner allen an der technischen Betreuung der Aufnahme Beteiligten, außerdem dem Augsburger Label www.gebrauchtemusik.de für die Organisation von Produktion und Vertrieb.
Dr. Eduard Steuben, Vorsitzender der Bayern Kulturstiftung, Augsburg/Ji'nan, Herbst 2004
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