20. März 2004, nachmittags
Liebes Tagebuch,
vor einem Jahr hat der Krieg angefangen, und die Leute sind zu Tausenden auf die Straße gegangen, weil sie mit ihrem Leithammel zusammen mal wieder gegen die Amerikaner sein wollten, gegen die zu sein ihnen sowieso immer gut tut, weil man gegen die selber schon mal einen Krieg verloren hat. Heute sind 50 Leute auf die Straße gegangen, und haben jedem, der es hören wollte, erzählt, dass ihr Leithammel die Amerikaner sehr wohl unterstützt hat mit der Freigabe seiner Militärbasen und der Bewachung ihrer Kasernen. Aber keiner wollte es hören, weil die Leute zwar jetzt auch gegen ihren Leithammel sind, aber sich das gute Gefühl des "Wir Deutschen sind besser, und sowieso besser als die Amerikaner" nicht ausreden lassen wollen. Keiner wollte es hören, und der Wind hat den 50 Leuten ihre Worte vom Mund gerissen und die Bassbox umgeworfen. Ich habe mich beim im Wind Stehen erkältet, habe Matsch im Kopf und kann mich nicht entscheiden, ob ich das graue Wochenende einfach verschlafen soll, bis wieder der Montag kommt - der alle Fragen nach Krieg und Frieden, Verstehenwollen und Handelnmüssen in der einen Antwort auflöst: Geld oder Leben - oder ob ich mich mit Kaffee wachhalten soll, um den grauen Himmel anzuschauen. Das Geräusch des brodelnden Wassers im Wasserkocher führt die Entscheidung herbei. Beim Herunterdrücken des Kaffeesatzes schwappt mir heißer Kaffeesatz auf die Hand, ich fluche, bin aber doch froh, dass ich wieder was spüre.
das leben wird roh gegessen
nur der kaffee ist viel zu heiß
wie lange soll das so weitergehen
alles dreht sich im kreis
Genau das ist der Fall, und genau das frage ich mich auch, aber dass es jemand so schön auf den Punkt bringt, noch dazu in eine Musik gekleidet, die Punkrock-Energie mit Trauer auf eine Art verbindet, die im Aufbau der Texte und Riffs oft an die Emo-Punk-Heroen ... But Alive erinnert, ganz oft aber durch ihre Gitarrenlinien den Aeronauten-Soul atmet, das macht Mut und ist ja allein schon ein Grund, sich gegen diese Kreisbewegung zu stemmen. Auch wenn das großartige Album Aufziehvogel der Magdeburger Band Braying Boredom nicht mehr Leute hören wollen als die Wahrheit über den Irakkrieg, bin ich froh, dass diese CD dank Elfenart Records (wo man es für läppische 10 Euro inkl. Porto bestellen kann) heute auf meinem Radar aufgetaucht ist. Und da bin ich dann doch froh, dass es dieses Amerika gibt, das den Rock'n'Roll hervorgebracht hat. Jeder, der nur das andere Amerika sehen will, kann sich gerne bei mir direkt beschweren. Der kriegt dann die Bassbox der Friedensinitiative von mir persönlich direkt auf den Kopf, macht nix, die war ja ohnehin schon im Eimer wegen dem Wind. Aus der Bassbox in meinem Zimmer, die zum Glück noch ganz ist, dringt jetzt HipHop, der kommt bekanntlich auch aus Amerika und hat sich als Modell des Sprechens über das, was Leute in allen Ecken der Welt bewegt, vielleicht noch mehr durchgesetzt als der Rock'n'Roll, vielleicht, weil er, wie die Wiener Rapperin Mieze Medusa sagt, "eine so stark codierte Kunstform ist", die mit Beats und Reimen ein Gerüst zur Verfügung stellt, um das sich wild wuchernde Ideen und scheue Gedanken, die sich alleine noch nicht so ganz aus dem Kopf heraustrauen, ranken können, um zur Sprache und so in die Gehirne anderer Menschen zu kommen. Dass Hiphop ursprünglich "schwarze Musik" sei, die nicht ohne Ghettocredibility funktioniert, ist dabei ein rassistischer Versuch, die Reichweite dieses Modells des Sprechens kleinzureden, das in Österreich genauso fruchtbar zu sein scheint wie in Afrika. (Was ich hier nicht weiter vertiefen will, aber wer es gut findet, dass die USA mit Colin Powell erstmals einen afroamerikanischen Außenminister haben, ist wahrscheinlich auch begeistert davon, dass die ehemalige Friedenspartei Die Grünen jetzt in Kriegszeiten den deutschen Außenminister stellen darf. Weil sie so viel dazugelernt hat, oder was?) Aber die Reichweite von HipHop ist groß, und mit seiner Sprachform gelingt es z.B. auch, die Resignation im "bürgerlichen Rückzug" des eigenen Kopfes zu sprengen, an einem Sonntagnachmittag in Wien, wo es Mieze Medusa auf ihrer ersten EP mit den DJs/Produzenten Tenderboy, Artifact und Faun binnen zwei Minuten schafft, von der Beobachtung der sonntagnachmittäglichen Langeweile von Familien auf Spielplätzen zu der Frage zu kommen, wie sich dasselbe Land anfühlt für jemanden, der von der Abschiebung bedroht ist, und was man dagegen tun kann. Da öffnet Poesie wirklich den Blick auf die Welt jenseits des Bauchnabels! "Hut ab vor jedem MC, der neben Witz auch Wut hat und sich ab und an auch für was stark macht", rappt sie in Tonabfall, einem der vier Tracks, die, mit unterkühlt housigen Keyboardflächen bis ziemlich jazzigen Klaviersounds unterlegt, insgesamt ziemlich triphoppig daherkommen. Die Schärfe und Eindringlichkeit der Texte stehen zum Sound in einem sehr spannenden Kontrast, denn hier wird deutlich: ohne diese Texte und ihren Vortrag wäre die Platte angenehm (DJ-freundlicherweise ist jeder Track auch in einer Instrumentalversion vertreten, denn: "Ich habe Platten gedreht, du Daumen"), aber durch das von den Texten transportierte Moment des Widerstands gegen die Hässlichkeit des Bestehenden wird diese kunstvolle Platte: schön. "Dieser Basslauf ist erwachsen geworden" und "sagt, was Sache ist: dass Heldentum nicht besticht".
Zwischenruf des Tagebuchs: Also, worum geht es dir jetzt, du Selbstmitleidspaket? Um Schönheit oder um den Weltfrieden?
Du dummes Tagebuch,
was konstruierst du hier für falsche Widersprüche? Der Weltfrieden ist doch das Schönste, was es gibt, und bis er hergestellt ist, muss die Fahne der Schönheit eben mit allen, ich wiederhole, allen verfügbaren Mitteln hochgehalten werden. "In such ugly times, the true protest is beauty", wusste schon Phil Ochs, und der ist für diese Erkenntnis buchstäblich gestorben. Sehr lebendig ist hingegen Mars Galliculus, dessen neues Album ypsdschungelabenteuer gewissermaßen eine Art Quersumme der musikalischen Herangehensweisen zieht, von denen gerade die Rede war: Über vertrackten Breakbeats und psychedelischen bis pseudo-industrial klingenden Soundflächen werden O-Töne frech quer durchs Gemüsebeet gesampelt, was mehr über die Absurditäten des Medienzeitalters aussagt als die Texte vieler Bands (gemäß dem von Braying Boredom formulierten Punk-Credo: "zynisch bleiben um zu überleben"), und in dem Track Installation Nr. 6 durch die clevere Collage zu einer Art Feature zum Stichwort "Globalisierung" wird, das vielleicht sogar einen neuen Weg aufzeigt, wie sich Politik und Popmusik so verbinden lassen, dass keiner der beien Aspekte darunter leiden muss. Dass das Album, das auf so basisdemokratische Weise mit den Worten von anderen in Dialog tritt, als Download vertrieben wird und nicht im kapitalistischen Zwischenhandel ;-), ist da nur konsequent.
Wer bis hierhin durchgehalten hat beim Lesen, obwohl es sich ja nur um einen Tagebucheintrag handelt, sei mit einem Buchtipp belohnt. Denn während ich von Lester Bangs und Roland Barthes gelernt habe, dass eine Plattenkritik (oder jede Art von Text über Kunst) umso besser ist, je deutlicher unter der Oberfläche der Seite (lies_ des Bildschrims) die Adern von Herzblut hervortreten, sprich, die Resonanz spürbar wird, die eine Platte im Leben eines Menschen hinterlassen hat, während ich gelernt habe, dass das keine subjektivistische Nabelschau ist, sondern eine besonders glaubwürdige Art, über Kunst zu schreiben, weil Kunst ihre Wirkung immer (zuerst) in einzelnen subjektiven Köpfen hinterlässt, während ich das also weiß, aber nicht besser umsetzen kann als in diesem peinlichen, erfundenen Tagebucheintrag (der aber im Hinblick auf die Tatsache, dass die beschriebene Musik meinen Nachmittag gerettet hat, absolut wahrheitsgemäß ist), währenddessen gibt es einen Autor, der die Verknüpfung von Kunst- (d.h. Literatur- und ganz stark auch Popmusik-) Kritik und Widerborstigkeit gegen die uns servierte Politik und den dazugehörigen Alltag immer mehr perfektioniert hat. Weshalb sein neues Buch Sterne und Straßen im Untertitel "Feuilletons" heißt, aber die Grenze zwischen Rezension, Essay und Erzählung einfach lässig auflöst. Dieser Autor ist Franz Dobler, und obwohl er bestimmt auch Sympathien für Peter Heins Zeilen "Wir trugen unser ganzes Geld in die Plattenläden / Das war schließlich die einzige Chance, sich gegen die ganze Scheiße zu wehren" hegen könnte, ist es in seinem Fall durchaus empfehlenswert, noch 12 Euro für den Buchladen abzuzweigen.
Braying Boredom: Aufziehvogel (CD, UTH Records 006 / Elfenart Records). Zu bestellen für 10,- Euro inkl. Porto bei Elfenart Records.
Mieze Medusa & Tenderboy: basslast alltag meets the unfunk side of hiphop - EP (EP, ! Records 001 / Goalgetter Distribution)
Mars Galliculus: ypsdschungelabenteuer (Download-Album, Überfall Records)
Franz Dobler: Sterne und Straßen. Feuilletons. (Paperback, Edition Tiamat, 12,- Euro)