Lieder für meinen letzten Tag # 1
The Times They Are A-Changin’ von Bob Dylan
"Lenny Bruce sagt, es gibt keine schmutzigen Wörter ... nur schmutzige Gedanken, und ich sage, es gibt keine deprimierenden Wörter, nur deprimierte Hirne"
"aber wie bist du glücklich, und wann bist du glücklich"
"ich bin ganz glücklich in diesem Augenblick"
"warum?"
"weil ich in aller Ruhe da raussehe und mir anschaue
wie sich die Nacht abspult"
"was meinst du mit ’abspult’?"
"damit meine ich etwas, was kein Ende hat
und so groß ist
dass ich jedes Mal, wenn ich es sehe, das Gefühl habe,
ich sehe es zum erstenmal"
"na und?"
"na, alles was kein Ende hat
muss einfach ein Gedicht sein, auf die eine
oder andere Art"
(Bob Dylan, 11 Textentwürfe für meinen Grabstein)
Lasst mich einfach erzählen.
12. September 1999, Portugal, genauer Lagos (sprich: Lagusch).
Lagos ist eine Stierkampfstadt an der Algarve (im Jahr 1441 trafen dort übrigens die ersten schwarzen Sklaven in Europa ein). Laut Reiseführer hat Lagos 10500 Einwohner. 400 Prozent von denen sitzen fortwährend in den Restaurants und sprechen perfekt deutsch. Und so wird Lagos zur Nahkampfstadt um die besten Plätze in den etwa 3000 Lokalen; und jeder denkt, gerade sein Platz wäre der beste. Doch der ist dort, wo die Katzen sind. Susi ist auch eine Katze, damals war sie meine Freundin. Hunde gab es auch. Und wenn einer davon zu bellen anfing, dann bellte bald ein Dutzend; aus allen Richtungen kam das Gejaule. Susi und ich in der Mitte. Auf dem Parque De Campismo Da Trindade. Dies ist die Ausgangslage.
Am Morgen des 12. September war es heiß, das Zelt war enger als sonst gewesen; immer noch kein Traum. Die einzige Verpflichtung bestand darin, so schnell als möglich auf dem Meer zu liegen. Zuvor vielleicht noch frühstücken. Auf jeden Fall die Nacht wegwaschen.
Im Reiseführer stand, dass die alten Eukalyptusbäume auf dem Campingplatz selbst im Hochsommer genug Schatten spenden würden. Das sind also Eukalyptusbäume, dachte ich. Das Handtuch lag über meinen Schultern und ich war auf dem Weg zu den Sanitäranlagen; die Nase trug ich hoch, um vielleicht etwas von dem Eukalyptusduft zu erhaschen. Ich roch Freiheit. Und trug die Nase hoch.
Auf meinem Weg kam ich an einem alten, verrosteten Renault vorbei, dessen Fenster heruntergekurbelt war; es saß niemand darin, aber das Radio lief; Bob Dylan sang: The Times They Are A-Changin’. Das war für mich immer ein guter Song gewesen. Doch plötzlich war es der größte Song zwischen meinen hohen Ohren, die so weit von meinen Füßen entfernt waren wie mein Kopf von Lackschuhen. Ich blieb vor dem Auto stehen und wühlte etwas verlegen in meinem Kulturbeutel, wollte nicht den Eindruck erwecken, als hätte ich irgendein krummes Ding vor. Ich wollte einfach dem Lied zuhören.
... and don’t speak too soon
For the wheel’s still in spin
And there’s no tellin’ who
That it’s namin’.
For the loser now
Will be later to win
For the times they are a- genau!
Ich überlegte, ob ich Susi rufen sollte ("Schnell, komm! Bob Dylan, es ist Bob Dylan!!"). Aber es gibt Augenblicke, die sind zölibatär und keusch geworden durch ihre Heiligkeit, sodass jede Äußerung von Liebe zur Veräußerung von Liebe wird und alles, was bliebe, wäre Liebe, so wie sie in Journalen buchstabiert wird. Kein Wort mehr darüber. Wie viele Sätze sind über Bob Dylan geschrieben worden, und wie viele Worte über dieses eine Lied, gute und wahre Worte; hier noch ein paar mehr von dieser Sorte: Ich bin Bob Dylan und sing Euch mein neuestes Lied.
Ich bin Frederico Garcia Lorca und habe eine neue Schreibmaschine.
Ich bin Cary Grant und Alfred Hitchcock will mich für seinen neuen Film haben.
333 neue Preissenkungen bei ALDI in dieser Woche.
Mein Name ist Bob Dylan und ich bin inzwischen ganz woanders.
Ich stand vor dem Spiegel, schäumte mir mein Gesicht ein, beschloss dann aber doch, mich nicht zu rasieren, das ganze Jahr nicht mehr. Ich wusch den weißen Schaum wieder vom Gesicht, warf sämtliche Utensilien zur Pflege des Zivilisationsgesichtes in den Abfalleimer unter dem Waschbecken.
Das Auto war nicht mehr da.
Ich küsste Susi, weil sie noch da war und wir gingen zum Baden an der Praia Dona Ana.
Ein Lied auf den Lippen, den künftigen Vollbart im Kopf, warf ich vier Schatten, einen nach Norden, einen nach Süden, einen nach Osten und einen nach Westen. Und auf dem Meer schwamm ich und sank nicht wie ein Stein.
Das war damals.
Susi fährt nach Waterloo, ich wichs auf’m Bahnhofsklo.
Das ist heute.
Come gather ’round people
Wherever you roam
Das ist für immer.
Herbert Hindringer