„Die überproduzierte Tussi“
Die Popjournalistin Kerstin Grether legt ihren ersten Roman vor

Ich kenn das Feeling, und ich kenne auch den Sound: To be a woman and to be turned down.
Britta

Wenn ein auf Popkritik spezialisierter Verlag einen Roman ankündigt, horcht der musikbegeisterte Literaturfan auf. Wenn das Buch dann auch noch von einer ehemaligen SPEX-Redakteurin geschrieben wurde, erst recht. Wie zu erwarten, spielt Musik in Kerstin Grethers Romandebüt Zuckerbabys, das im Mainzer Ventil Verlag erschienen ist, von Anfang an eine wichtige Rolle, der erste Satz des Buches lautet: „Ich lebe so viel, wenn ich singe.“ Sonja, die Protagonistin, nimmt Gesangsunterricht, um ihren Traum vom Musikmachen zu verwirklichen. Ihr angestammtes künstlerisches Betätigungsfeld – sie zeichnet Comics – genießt in der Hamburger Szene einfach nicht so viel Ansehen. Das Musikmachen dagegen scheint strikt den Männern vorbehalten zu sein, etwa Johnny, der „Electro-Wave, mit den Mitteln von Garage-Rock“, macht. Dafür, dass sich Sonja in ihn verliebt, kann man sich beim Lesen eigentlich nur einen Grund denken: Er repräsentiert die Musik, von der Sonja ausgeschlossen ist. „Soll sich doch einfach damit zufrieden geben, eine Rockband zu machen. Reicht das nicht? Andere – die Szene-Suzis zum Beispiel – machen gar keine Bands.“ Deshalb verletzen Kicky, Micky und Ricky mit ihrer All-Girl-Band Museabuse, die Sonja am Anfang des Buches um den Entwurf eines Bandlogos bitten und sie am Ende mit auf Tournee nehmen, zentrale Tabus der Szene und erst recht der Musikindustrie. Die Rollenmodelle, die diese für Musikerinnen vorsieht – stets einzelne Sängerinnen, nicht etwa ganze Bands, in denen Frauen gemeinsame Sachen machen – , beschreibt Sonjas Freundin, die Journalistin Allita, in einem ihrer Artikel. „Sie wird volle Kanne als Sexsymbol vermarktet, nur über den Körper. [...] Die Musik ist nicht so übel. Also wie das attitudemäßig zusammengeht, das würde mich interessieren.“

In Sonjas Geschichte geht es lange Zeit gar nicht zusammen. Als Johnny nach einer kurzen Affäre mit ihr Schluss macht, vermutet sie dahinter eine Rivalin: Das Model Melissa, das mit Johnny in einer Boutique jobbt – die wohl musikfernste Figur des ganzen Romans, deren Identität voll und ganz über ihr Aussehen, ihren Körper definiert ist. Ihre Figur. Sonjas Konsequenz ist klar: Sie muss sich dem von Melissa verkörperten Idealbild annähern, wenn sie Johnny zurückhaben will – schön, schlank, infantil: „Denn ich bin ein schönes junges Mädchen, wie es sich gehört für eine Frau.“ Um das zu schaffen, muss sie sich nicht nur Pfunde weghungern, sondern auch das Interesse an Musik und eigener Kreativität, ja, das „Interesse an der Welt“ überhaupt. Was ihr nur allzu gut gelingt, denn eine echte Magersucht, wie sie Sonja entwickelt, lässt dem Körper weder zum Singen noch zum Zeichnen Kraft. Und der Psyche schon gar nicht, denn die ist in einer qualvollen Endlosschleife aus Selbstverachtung und Aufbegehren gefangen, die alles Tun außer dem, das sich auf die ‚Perfektionierung’ des Körpers richtet, wertlos erscheinen lässt.
Wie Kerstin Grether aus Sonjas Ich-Perspektive die Qualen und auch die inneren Widersprüche des magersüchtigen Denkens beschreibt – das die Frau weiterhungern lässt, obwohl sie merkt, dass sie einer Logik folgt, die Frauen eigentlich auslöschen soll – , hat Klasse. Stilistische Klasse, weil der hibbelige Plauderton, der den ersten Teil des Buches prägt, sich hier plötzlich als äußerst brüchige Fassade erweist, die von abgründigen Reflexionen über die eigene Todesnähe durchlöchert wird. Und analytische Klasse, weil es Kerstin Grether gelingt, ihre in einem recht spezifischen Pop-Milieu angesiedelte Geschichte auf das gesellschaftliche Ganze zu beziehen, etwa wenn Sonja über sich und die anderen Frauen denkt: „Keiner macht es uns leicht, einfach nur frei zu sein. Denn wir träumen davon, uns für die Träume von anderen zu eignen. [...] Wir sind die Musen des Neoliberalismus – an uns sieht man, was man Menschen alles antun kann.“
Und man kann es erkennen, weil im Popbereich (der sich als überraschend produktives Experimentierfeld für Grethers feministische Kritik an Körperkonzepten erweist) ständig Images produziert und Lifestyles kreiert werden, nicht anders als in irgendeiner Modezeitschrift – nur dass die Musik und die dazugehörigen Medien eben eine Ebene dazugeben, die das Bild korrigieren können, es zumindest noch zur Sprache und idealerweise zur Reflexion bringen. Verkürzt gesagt: Ein Image zu begehren, weil darin die Sehnsucht steckt, selber an die Stelle der Sängerin zu treten und zu schreien, ist allemal besser, als nur deren ideales Aussehen zu begehren, um Männern zu gefallen. Zwar unterliegen auch die Popmusik und der dazugehörige Apparat den Zwängen eines frauenfeindlichen Neoliberalismus (s.o.), aber sie bietet gegenüber anderen gesellsachftlichen Territorien immer noch mehr Sub- und Zwischenräume, in denen sich Abweichungen artikulieren lassen – was keinen Umsturz der Gesellschaftsordnung bringen wird, aber immerhin in Einzelfällen (wie bei Kerstin Grethers Protagonistin) lebensrettend wirken kann. „Weil im Pop immer noch alles sagbar ist, was im Lifestylesektor untragbar ist. Der Lifestylesektor ist die nörgelnde Mutter, die sich auf die Macht des Vaters beruft [...] Bin ich froh über Pop [...]. Da sind die Eltern aus dem Haus.“ Wir sind Museabuse, wir sind Lichtjahre voraus.

Kerstin Grether: Zuckerbabys. Roman. Mainz: Ventil Verlag 2004. 208 Seiten, Paperback, 11,90 Euro (D), ISBN 3-930559-71-4